Nach der Welle ist vor der Welle. „Dass es wieder aufwärts geht, ist unvermeidlich“, sagt Tanja Stadler. „Irgendwann zwischen jetzt und Oktober erwarte ich eine Trendumkehr und es wird eine Welle geben, die durch BA.5 verursacht wird.“
Lea Hartmann, Ulrich Rotzinger und Ruedi Studer
Die gute Nachricht zuerst: Die Sommerwelle ist gebrochen. Das Coronavirus ist kein Problem mehr. Nicht für alle, aber für die große Mehrheit. Ein Bundespfadfinderlager, ein Straßenumzug und das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest am Wochenende: Es wird wieder gefeiert. Es gibt keine Einschränkungen für das Coronavirus. Die letzten modernen Zeugen, wie die Desinfektionsmittelspender an den Bahnhöfen, wurden entfernt.
Zu früh? Seit Beginn der Pandemie haben Schweizer Labors 4’029’651 Infektionen mit dem Coronavirus bestätigt. Bisher haben 13.589 Menschen ihr Leben verloren. Im Herbst und Winter wird es wieder Sendewellen geben, das ist sicher. Anders als in den Vorjahren ist das kein Grund zur Panik, wie das Corona-Update von Blick zeigt.
Die nächste Welle kommt
Die Sommerwelle ebbt weiter ab: 17.015 Neuinfektionen wurden in der vergangenen Woche gemeldet, 1.200 weniger als in der Vorwoche. Von einem Szenario mit nur wenigen Infektionen pro Tag ist man jedoch weit entfernt. Die Positivitätsrate von PCR-Tests hat leicht abgenommen, ist aber immer noch sehr hoch. Mehr als jeder dritte Test ist positiv. Und die Kurve der Fallzahlen entwickelt sich in Richtung Stagnation. «Der Rückgang ist deutlich langsamer», sagt Biostatistikerin Tanja Stadler (41) gegenüber Blick. Omicron bleibt die dominierende Variante, wobei der hochansteckende BA.5-Subtyp das Geschehen fast vollständig dominiert. Bedingt durch saisonale Faktoren – der Herbst wird kühler, wodurch sich die Menschen häufiger in Innenräumen aufhalten – rechnet der frühere Leiter der Corona-Taskforce wieder mit steigenden Fallzahlen. Auch das Ende der Ferien kann die Verbreitung des Virus begünstigen. „Es ist unvermeidlich, dass die Dinge wieder hochkommen“, sagt Stadler. „Irgendwann zwischen jetzt und Oktober erwarte ich eine Trendumkehr und es wird eine Welle geben, die durch BA.5 verursacht wird.“ Stadler schätzt, dass sich während der Sommerwelle «etwa zwei Millionen Menschen angesteckt haben». „Im Herbst dürfte die Infektionslast genauso hoch sein. Die Mehrheit der Menschen in der Schweiz könnte sich im Winter erneut anstecken.» Denn: „Im Moment sehen wir keine neue Variante, die Omikron verdrängen und die aktuelle Situation nachhaltig verändern könnte.“
Es bleibt eine Herausforderung für Krankenhäuser
Auf jedem 20. Intensivbett liegt derzeit ein Coronavirus-Patient. Die Zahl der Intensivbetten ist seit letztem Sommer gesunken: Standen vor einem Jahr noch durchschnittlich rund 850 Betten zur Verfügung, sind es heute knapp 800. Grund dafür sind krankheitsbedingte Personalengpässe und betriebsbedingte Kündigungen. «Die Personalsituation auf den Intensivstationen war bereits vor der Covid-19-Pandemie angespannt und ist insbesondere im Pflegebereich weiterhin besonders anspruchsvoll», teilte die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin auf Anfrage mit. Während Intensivstationen nicht mit einem massiven Anstieg von Corona-Patienten rechnen müssen, dürfte die Belastung auf den Allgemeinstationen wieder steigen. „Mit steigenden Infektionszahlen steigen auch die Krankenhauseinweisungen“, sagt Tanja Stadler. „Dank Impfungen und Genesung sind sehr schwere Erkrankungen, die eine intensivmedizinische Behandlung erfordern oder zum Tod führen, viel seltener geworden.“ Krankheiten seien aber auch mit Fehlzeiten am Arbeitsplatz verbunden, so Stadler. «Vor der Pandemie hatten wir in der Schweiz kein Virus, das im Sommer zu so vielen Krankschreibungen geführt hat wie das Coronavirus.»
Für Massnahmen sind die Kantone zuständig
Seit der Aufhebung des Ausnahmezustands Ende März sind die Kantone hauptsächlich für die Bewältigung des Coronavirus zuständig. Trotz ihrer Proteste hielt der Bundesrat an dem Plan fest, nur dann einzugreifen, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht und die Kantone diese nicht mehr alleine bewältigen können. «Wir werden uns stärker abstimmen, damit es keinen Flickenteppich mehr gibt», sagt die Berner Kantonsärztin Barbara Grützmacher (47), Vizepräsidentin des Verbands der Kantonsärzte. Die Gesundheitsdirektorenkonferenz hat die Weichen gestellt und bereits über mögliche Maßnahmen beraten. So ist geplant, Wiederholungstests in Krankenhäusern und Heimen wieder einzuführen, wenn viele Menschen schwer erkranken. Eine Maskenpflicht in Gesundheitseinrichtungen und ggf. in öffentlichen Verkehrsmitteln ist eine Option. Zudem könnten Impfzentren schnell wieder in Betrieb genommen werden, teilten die Kantone auf Anfrage mit. Andererseits sind zumindest einige Kantone wie St. Gallen und Aargau, wollen aufgrund der gesammelten Erfahrungen künftig auf Contact Tracing verzichten. Erst wenn die Alternative ein Lockdown ist, soll das Covid-Zertifikat wieder verwendet werden – und wenn, dann nur vom Bund, so die Kantone. „Ziel ist es, drastische Maßnahmen zu vermeiden“, sagt Simon Ming vom Bundesgesundheitsdienst. Sein Büro gehe davon aus, dass der Personen- und damit der Bevölkerungsschutz reduziert werde. Bei der Anordnung von Maßnahmen zeigt sich die Bundesregierung zurückhaltend. In der aktuellen Normallage seien dafür die Kantone zuständig, betont Ming. Bei Bedarf gibt das BAG jedoch Empfehlungen an die Kantone ab. «Umsetzung und Verantwortung liegen jeweils bei den Kantonen», stellt Ming klar. Schließlich will das BAG der Bevölkerung Verhaltenshinweise geben, „wie man sich und andere im Herbst und Winter wirksam schützt“.
97 Prozent sind geimpft
Wie gut sind wir geschützt? 69,3 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz sind mittlerweile vollständig geimpft. Zählt man Personen mit nur einer Impfung dazu, liegt der Wert der Impfung bei knapp über 70 Prozent. Im internationalen Vergleich liegt die Schweiz damit im Mittelfeld. Das BAG spricht jedoch von einer “hohen Immunität” in der Bevölkerung. Berücksichtigt man zusätzlich die Ansteckungsgefahr, dürften über 97 Prozent der Schweizer Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt gekommen sein. Christoph Berger (60), Präsident der Eidgenössischen Impfkommission (Ekif), bestätigt: «Wir haben einen gewissen Schutz vor schweren Erkrankungen.» Denn fast die Hälfte der vollständig Geimpften hat mittlerweile auch eine Auffrischungsimpfung bekommen.
Neue Impfempfehlung im September
Die Empfehlung von Ekif und dem BAG, den Impfschutz weiter zu erneuern, richtet sich bislang an besonders gefährdete Personen und Personen über 80 Jahre, gilt aber auch für Pflegekräfte und Pflegepersonal. Damit soll das Gesundheitssystem vor Überlastung geschützt werden. Laut BAG haben bisher 125.341 Personen eine zweite Verlängerung erhalten. Davon sind 77.000 Menschen 80 Jahre oder älter, was 16,9 Prozent dieser Altersgruppe entspricht. „Die restlichen Impfungen sind entweder Reiseimpfungen oder Auffrischungsimpfungen für immungeschwächte Personen. Impfchef Berger: „Eine zweite Mahnung für die Allgemeinheit bedarf es ab sofort nicht.“ BAG und Ekif raten dazu, mit einer zweiten Auffrischimpfung (vierte Spitze) bis zum Einsetzen der Winterwelle zu warten. Grund seien die derzeit kursierenden Varianten des Virus, die sich wiederum weniger verbreiteten. In der Schweiz ist es Omikron mit über 99 Prozent. Hierzulande gibt es dagegen keine angepassten Impfstoffe. Im September will die Bundesregierung neue Impfempfehlungen herausgeben. Eine weitere Umschulung wird dann für alle Personen über 16 Jahren empfohlen, besonders aber für ältere Menschen über 65. Wenn diese Empfehlung endgültig wird, ist die Verlängerung kostenlos. Die Bundesregierung geht davon aus, dass der Impfbeginn „voraussichtlich in den Oktober fallen wird“.
Kundenspezifische Impfstoffe wurden bereits vorbestellt
Laut BAG sind ausreichende Impfstoffdosen verfügbar (Moderna, Biontech/Pfizer, Janssen). Darüber hinaus wird der proteinbasierte Impfstoff von Novavax bei Personen angewendet, die aus medizinischen Gründen nicht mit einem mRNA-Impfstoff geimpft werden können. Es steht aber auch allen anderen Personen zur Verfügung, die sich impfen lassen möchten. Da derzeit verfügbare Impfstoffe kaum vor Infektionen mit Mikron und Subvarianten mit hohem Infektiositätspotential schützen, sondern überwiegend in milder Form, lohnt es sich, auf angepasste Impfstoffe zu warten. „Ideal wäre es, in Zukunft einen Impfstoff zu haben, der weniger variantenabhängig ist“, sagt Berger. Außerdem: Im Oktober, vor der Winterwelle, sollen die Omicron-angepassten Impfstoffe fertig sein. Pfizer und Moderna haben bei Swissmedic ein Zulassungsverfahren für ihre kundenspezifischen bivalenten Booster im Gange. Moderna rechnet mit grünem Licht bis Ende August, Pfizer spätestens im September. Nach Angaben der Hersteller sollen dann auch die maßgeschneiderten Impfstoffe zur Auslieferung bereitstehen. Diese seien vom Bund bereits vorbestellt worden – in ausreichender Menge, versichert das BAG.
Das Zertifikat ist fast bedeutungslos
Nach einer Auffrischimpfung ist das Covid-Zertifikat mindestens 270 Tage gültig. Ein Verfahren macht in der Schweiz keinen Sinn – zumindest solange keine erneute Verpflichtung auferlegt wird, etwa zum Besuch des Hallenbades. Wichtig bei Reisen: Schweizer Gültigkeitsregeln sind nicht relevant, sondern die des Ziellandes. Für Personen unter 18 Jahren sind Covid-Bescheinigungen nach der Grundimpfung in EU-Ländern unbegrenzt gültig, einige Länder akzeptieren auch eine abgelaufene Schweizer Bescheinigung. Mit der neuen Funktion der Covid-Cert-App kann jeder überprüfen, ob das Zertifikat für…