Thomas Haldenwang: „Erstens sind friedliche Proteste durch unsere Verfassung geschützt. Der Verfassungsschutz prüft sorgfältig, ob dieser Rechtsprotest von Demokratiefeinden übernommen wird. Derzeit haben wir keine Anzeichen von gewalttätigen Massenunruhen. Die Sicherheitsbehörden sind auf alle möglichen Szenarien vorbereitet.” Ihr Kollege aus Thüringen, Stefan Kramer, warnt vor einer „besonders emotionalen, explosiven und gewalttätigen Situation“, während es sich bei den Corona-Protesten um „Kindergeburtstage“ handelt. Haldenwang: „Ich verstehe, dass Herr Kramer den schlimmsten Fall darstellt, das Worst-Case-Szenario. Ich erwarte nicht, dass die Proteste gewalttätiger ausfallen als auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung.” Haldenwang interviewt Lydia Rosenfelder (r.) und Angelika Hellemann in einer Außenstelle des Verfassungsschutzes in Berlin. An der Wand hängt ein Foto des US-Künstlers Keith Haring (†31) Foto: © Parwez
Am 5. September zieht eine Montagsdemonstration durch Leipzig. Wisst ihr schon, wer dort antreten wird? Haldenwang: „Während der Corona-Proteste haben Rechtsextreme, Menschen aus dem Delegitimierungsmilieu, aber auch rechtsextreme Parteien wie ‚Freies Sachsen‘ versucht, die Proteste zu kapern – erfolglos. Wir sehen diese Leute jetzt wieder. Es ist sozusagen ihr Geschäftsmodell, die Krisen für ihre Zwecke zu missbrauchen. Auch interessant Sie schauen, wo er gärt und setzen sich auf ihn. Der Inhalt hinter den Protesten scheint zweitrangig zu sein. Die Hauptsache ist, die Leute auf die Straße zu bringen und das Ganze in populistischen Begriffen wie Anger Citizens oder Anger Winter aufzumischen.” Aber auch linke Gruppen rufen zu Demonstrationen auf. Kooperieren Rechts- und Linksextremisten in der Preiskrise? Haldenwang: „Von einer solchen Querfront, bei der sich die Lager zusammentun, kann die rechtsextreme Szene nur träumen. Für Linksextremisten ist eine Zusammenarbeit ausgeschlossen, weil sie Rechtsextremisten als Faschisten ansehen. Der linksextremistische Protest instrumentalisiert andere Themen: den Ausbau der Nutzung von Kohle, Erdgas und Atomkraft, die Aufrüstung der Bundeswehr.

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Wo ist die größte Gefahr? Recht? Links? Islamismus? Haldenwang: „Die größte Gefahr für Sicherheit und Demokratie in Deutschland geht vom Rechtsextremismus aus. In keinem anderen Bereich des Extremismus gab es seit 1990 so viele tödliche Gewalttaten. Was mich am meisten beunruhigt: Rechtsextreme versuchen, den Mittelstand zu erreichen. Dass einfache Bürger mit Extremisten protestieren, ist ein Phänomen, das wir seit den Demonstrationen in Chemnitz im Jahr 2018 beobachten.“ Ist Russland an den Protesten beteiligt? Haldenwang: „Nur indirekt. Russland hat seine Desinformationsaktivitäten in Deutschland massiv ausgeweitet und verbreitet hier Propaganda. Russische Narrative beinhalten, dass die NATO Russland den Krieg auferlegt hat und dass Sanktionen für die Energiekrise verantwortlich sind. Teile der rechtsextremen Szene übernehmen diese Parolen aus Moskau. Es ist bemerkenswert, wie unkritisch manche Rechtsextremisten und Rechtspopulisten zum Sprachrohr Putins werden und sein Lied singen.” Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz seit fast vier Jahren: Thomas Haldenwang (62) Foto: REUTERS
Russland verbreitete bereits während der Flüchtlingskrise Fake News, so wurde beispielsweise die Vergewaltigung eines Mädchens namens Lisa fabriziert. Kommt das jetzt häufiger vor? Haldenwang: „Wir sehen eine sehr mächtige Propagandamaschine, aber sie funktioniert etwas anders als zuvor. Selten sehen wir so flache Fehlinformationen wie im Fall Lisa. Staatliche Medien und private Akteure arbeiten Hand in Hand, um russische Lügen zu verbreiten. Darüber hinaus hat die Propaganda andere Kanäle geöffnet. Jetzt verbreiten Influencer beispielsweise auch russische Fake News in sozialen Netzwerken wie Telegram oder Tiktok.“ Ist auch die russische Spionage auf dem Vormarsch? Haldenwang: „Russlands Spionageaktivitäten waren schon vor dem Ukrainekrieg intensiver als während des Kalten Krieges. Wir haben der russischen Seite einen schweren Schlag versetzt, indem wir kürzlich 40 Agenten aus Deutschland nach Moskau und über 400 als Diplomaten verkleidete aus ganz Europa entsandt haben. Foto: BILD
Dem wird versucht entgegenzuwirken, beispielsweise mit Reisebüros oder Cyberangriffen. Politische und wirtschaftliche Informationen sind für Moskau von größtem Interesse. Wie das Rüstungspaket, alle Projekte der Bundeswehr, der Nato und der EU oder die künftige Energiepolitik Deutschlands. Wir sehen bereits Versuche, sanktionierte Waren illegal zu beschaffen.” Dieser Artikel stammt von BILD am SONNTAG. Das ePaper der gesamten Ausgabe ist verfügbar hier.