Deutschland sei nicht geteilt, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor einigen Monaten. Wie wenig davon wahr ist, kann man heute Abend erfahren. Vor der Festung sind die, die voller Verzweiflung, voller Wut und einige voller Hass sind. Ein ziemlich bunter Haufen. Es gibt grimmig aussehende, tätowierte Männer in ausgebeulten T-Shirts, auf denen Slogans wie „Freiheit ist nicht richtig“ und Plakate mit der Aufschrift „Volksverräter“ prangen. Gemeint ist Olaf Solz. Und dann gibt es Mädchen mit kulturell angeeigneten Dreadlocks, die ebenfalls gegen die schwache Klimapolitik von Scholz sind. Die AfD hat Aktionen gegen den Kanzlerbesuch angekündigt, aber auch Fridays for the Future oder linke Jugend. Sie pfeifen, hupen und schreien, jede Gruppe für sich, aus Protest gegen die Kanzlerin.
Gewählte mutige Bürger loben die Kanzlerin
Und während draußen wütende Bürger wüten, loben ausgewählte tapfere Bürger in der Festung den Kanzler dafür, dass er seine Politik so erklärt hat, dass er so viel gegen die Inflation, den Krieg in der Ukraine und die ganze Unsicherheit getan hat. Sie tun es höflich, danke für die Einladung, in frisch gebügelten Kurzarmhemden und freundlichen Sommerkleidern. Lesen Sie auch Draußen vor der Polizeiabsperrung steht Jan, 53, Kleinunternehmer aus Köthen und sagt: „Wenn die Energiepreise so weitergehen, bin ich bald pleite. Die Demokratie, das ganze System, ist völlig kaputt.“ Drinnen, hinter der Polizeiabsperrung, sitzt Günter ein paar Hände von der Kanzlerin entfernt und sagt: „Man sieht an diesem Treffen mit der Kanzlerin, wie gut die Demokratie funktioniert, wie er mit den Bürgern spricht und seine Politik erklärt.“ . Auch wenn die Kanzlerin das anders sieht: Deutschland ist geteilt. Der Riss teilt das Land nicht mehr durch einen großen Stacheldraht. Es gibt jetzt viele Risse, die durch Regionen, Städte, Dörfer, Nachbarschaften und sogar Familien verlaufen. geteilte Meinungen. Jan und Gunter sind Männer im ähnlich fortgeschrittenen Alter. Der eine aus Magdeburg, der andere aus dem nahegelegenen Köthen. Jan hat einen Metalllackierbetrieb, fünf Mitarbeiter, er braucht 30 Liter Öl pro Stunde für den Betrieb. „Ich kann die Kosten höherer Ölpreise immer noch weitergeben, aber wie lange noch?“ er fragt. Er fühlt sich von der Regierung allein gelassen, verlassen. Nichts von der Erleichterung hatte ihn erreicht. Er wählt die AfD, stellt sich nah an die Menge, aus der sie im Kanzleramt „Hau ab“ oder „Schämt euch“, „Krieger“ und „Volksverräter“ schreien. Der Bundeskanzler würde sie ohne Widerrede nicht mehr dorthin bringen.
Andere nicken
Deshalb werden die 150 Bürgerinnen und Bürger für einen Dialog mit der Kanzlerin ausgewählt, die nach Antragstellung von der Universität Magdeburg per Los ermittelt werden. Leute wie Gunter, der sagt, er habe von der Kanzlerin keine Antwort darauf bekommen, warum für das milliardenschwere Hilfspaket keine Extra-Gewinnsteuer eingeführt wird. “Aber die Kanzlerin sucht das Gespräch, sie gibt auf”, sagt er. Ein paar andere um sie herum nicken. „Ich finde, die norddeutsche Gelassenheit von Olaf Solz verbreitet Ruhe“, sagt ein bebrillter älterer Herr. Die anderen nicken wieder. Die Leute in der Festung haben – so scheint es zunächst – andere Probleme als die vor ihm. Ein junger Mann will wissen, wie es mit dem Neun-Euro-Ticket und dem Schienenverkehr im Allgemeinen weitergeht. Ein grauhaariger Herr macht sich Sorgen um den deutschen Wald und wie er bewirtschaftet werden soll. Eine Frau, die sich selbst als “Mutter aus Halle” bezeichnet, sorgt sich um die Zukunft der Sprachkindergärten, ein jüngerer Mann fragt, ob Scholz bei Verdacht auf versteckte Drogen wieder Brechmittel verabreichen würde wie zu seiner Zeit in Hamburg – was natürlich die Kanzlerin Mehr tat er nicht – ein anderer fordert die schnelle Freigabe von Cannabis. Es stimmt nicht, dass die geladenen Bürger es nicht viel genauer wissen wollten, aber nach zwölf Fragen in 90 Minuten kann niemand tiefer gehen. Die Moderatorin führt die Kanzlerin am Abend in einem sanften Kreis und stellt die schwierigste Frage: „Was wollten Sie als Kind werden?“ Und auch damals hat Olaf Scholz nicht klar geantwortet – die Bürgerinnen und Bürger haben es an diesem Abend nicht erfahren.
Scholz und sein Doppelnetzwerk
Olaf Scholz tritt mit einem Doppelnetz an, einer Art Schutzraum. Wie in einer Art Fernsehstudio ohne Reporter, die recherchieren und Statements abgreifen. Die Moderatorin spricht lieber von der „entspannten Atmosphäre“ unter dem großen Superschirm im Festungshof, der wie eine Insel in einem tosenden Meer aus Lärm, Pfeifen und Geschrei wirkt. Die Kanzlerin bestreitet derweil ein Heimspiel, wohlbehütet, die Scholz-Taktik besteht aus drei Elementen: bekannte Aussagen wiederholen, ins Detail gehen, damit viele abschrecken. Und endlich den Ball in einer schwierigen Zeit aus dem Strafraum zu holen. Niemand kann es wie Scholz. Der Flickenteppich der Hilfspakete? “Es gibt so viele, an die sich keiner mehr erinnern kann”, sagt die Kanzlerin. “Die Entlastung in der Lohnbuchhaltung ist so kompliziert, dass es keiner versteht.” Zur Frage der unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze: „Ich glaube, niemand versteht dieses System. Jeder Anpassungsversuch endete im Desaster“, erklärt Scholz. Olaf Solz in Magdeburg Quelle: Getty Images/Pool Steuern auf Renten? Zum Entsetzen der Politiker hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, sagt die Kanzlerin: “Niemand kann sich entziehen, wenn das Bundesverfassungsgericht etwas entscheidet.” Damit hat Olaf Scholz natürlich Recht. Aber bei alledem entsteht der Eindruck, dass Politik, die Regeln unseres Lebens, weit, weit weg von Olaf Solz gemacht werden, der Jahrzehnte lang Spitzenpositionen in der Politik bekleidete. Wenn Sie auf die Kanzlerin hören, ist Politik etwas Entpersönlichtes, Anonymes, Abstraktes
Irgendwann kommen die kritischen Fragen
Doch je länger dieser politische Dialog dauert, desto deutlicher wird, dass die Menschen unter dem Dach auch ganz reale Ängste und Sorgen haben. Irgendwann werden Fragen auftauchen, wie die Hilfspakete finanziert werden. Wenn es gut ist, der Ukraine schwere Waffen zu liefern. Warum Rentner keinen Energiezuschlag bekommen. Ob Deutschland Sanktionen gegen Russland nicht härter trifft als die Russen. Aber Olaf Scholz ist sehr professionell und trotzdem akribisch genug, um keine Details und Definitionen aufkommen zu lassen, die man nicht schon kennt. Bürgerdialoge wie an jenem Abend in Magdeburg seien das, was er in seinem Job als Politiker am meisten schätze, sagt Olaf Scholz. “Das Meinungsspektrum ist breiter, es deckt mehr Realität ab, als man lesen kann”, sagte die Kanzlerin den Medien. Tatsächlich bringen die Menschen eine Vielzahl von Themen an die Kanzlerin heran. Sie bekommen eigentlich keine neuen Antworten. Aber die Gäste auf der Festung sind an diesem Abend meist zufrieden. Olaf Scholz hat es noch nicht verloren. Im Gegensatz zu denen, die vor der Festung stehen.