Von Jan Gaenger 24.08.2022, 20:53 Uhr
Weil Kernkraftwerke ausfallen, kauft Frankreich riesige Mengen Strom. In Deutschland spüren die Verbraucher die höheren Preise – nicht aber in Frankreich. In Deutschland gehen die Strompreise durch die Decke. Auf dem Großhandelsmarkt erreichen sie schwindelerregende Höhen. Einer der Hauptgründe: Frankreich. Das Nachbarland ist für seinen Strom auf Atomkraftwerke angewiesen und hat derzeit massive Reaktorprobleme. Die Folge: Frankreich produziert nicht nur weniger Strom, sondern muss sogar Strom importieren – ungewöhnlich für ein Land, das traditionell viel Atomstrom exportiert. Der Angebotsrückgang bei gleichzeitig steigender Nachfrage in Frankreich treibt die Preise am Großhandelsmarkt in die Höhe und schlägt sich verzögert bei den Endkunden nieder. Da sich der Preis, den sie zahlen, zu einem großen Teil aus Zuschlägen und Steuern zusammensetzt, bleiben die Ergebnisse begrenzt. Allerdings: Laut dem Vergleichsportal Verivox kostet eine Kilowattstunde Strom in einem durchschnittlichen Haushalt in Deutschland mittlerweile 42 Cent – und damit 28 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Für Strom gibt es mehrere Preisführer. Einer davon ist der Erdgaspreis, der infolge der russischen Lieferkürzungen in die Höhe geschossen ist. Das Gas wird auch zur Stromerzeugung genutzt. Ein anderer ist die Atomnation Frankreich, für die derzeit teurer Strom in Deutschland produziert wird. Mehr als die Hälfte der 56 Atomkraftwerke dort wurden abgeschaltet. Das liegt nicht nur an den wöchentlich stattfindenden regelmäßigen Wartungsarbeiten im Sommer. In diesem Jahr sind es mehr als sonst, da einige aufgrund der Coronavirus-Pandemie verschoben wurden. Außerdem wurden Korrosionsschäden im Notkühlsystem der in die Jahre gekommenen Reaktoren entdeckt, die repariert werden müssen.
“So viel wie möglich kosten”
Verschärft wird die Situation durch die Dürre in Frankreich. Sie sorgt dafür, dass nicht alle in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke ihre volle Leistung erbringen können. Die Flüsse, aus denen die Öfen gekühlt werden, haben niedrige Wasserstände. Daher erwärmen sie sich schneller als das Rückkühlwasser. Diese sollte jedoch zum Schutz der Flora und Fauna des Flusses eine bestimmte Temperatur nicht überschreiten. In Frankreich ist diese Temperatur für jedes Kernkraftwerk festgelegt, die Vorschriften wurden aufgrund von Energiekreisläufen teilweise gelockert.
Frankreich deckt fast zwei Drittel seines Strombedarfs mit Kernkraft. Da das Land stark auf Strom zum Heizen angewiesen ist, wächst die Befürchtung, dass der Strom in Europa knapp werden könnte. Daher sind die Preise auf dem Großhandelsmarkt wirklich verrückt. „Es ist offensichtlich, dass derzeit viel Strom aus dem europäischen Markt, insbesondere aus Frankreich, zugekauft wird“, sagt Mirko Schlossarczyk, Partner beim Energieberatungsunternehmen Enervis, im Gespräch mit ntv.de. “Einige Lieferanten stehen unter extremem Druck. Den Franzosen wird der Strom aus ihren Kernkraftwerken entzogen. Um ihren Lieferverpflichtungen nachzukommen, müssen sie liefern – koste es, was es wolle.” Dass es tatsächlich zu einer Energieknappheit in der EU kommt, hält Schlossarczyk für unwahrscheinlich: „Die Lage in den französischen Atomkraftwerken dürfte sich in den kommenden Monaten wieder entspannen, ebenso die Versorgung mit Wasserkraft“, sagt der Energieexperte. Extreme Hautausschläge sind nur eine Momentaufnahme. Ironischerweise spüren die französischen Verbraucher den Preisboom kaum, die deutschen jedoch schon. Denn im Nachbarland hat die Regierung unter Präsident Emmanuel Macron die Preise zumindest bis Ende des Jahres gedrosselt. Dadurch haben französische Kunden keinen Anreiz, Strom zu sparen. Das ist ein Problem für den überschuldeten Atomkonzern EDF. Das Unternehmen muss viel Strom zu Rekordpreisen im Ausland einkaufen und darf die Kosten wegen der Preisobergrenze nicht an die Kunden weitergeben. Darüber hinaus hat die Regierung EDF verpflichtet, eine bestimmte Menge Atomstrom zu einem ebenfalls festgelegten Preis an seine Konkurrenten zu verkaufen. Dadurch sollen auch die Kunden dieser Anbieter vor hohen Strompreisen geschützt werden. Der Konzern fordert deshalb vom französischen Staat Schadensersatz in Höhe von mehr als acht Milliarden Euro.